Der Molekularkoch im Altersheim – Interview mit Rolf Caviezel

Rolf Caviezel sorgt gerne für Verwirrung im Mund. Als Molekularkoch verwandelt er Aromen in künstlerische Gebilde, verleiht bekannten Lebensmitteln neue Formen, Konsistenzen und Aggregatszustände. Molekulare Küche, so der Oberbegriff für diese Art des Kochens, stellt die oralen Nerven vor eine Herausforderung. Das Spannende: Caviezel ließ seine neuesten Kreationen nicht von ausgewählten Experten testen, bis vor zwei Jahren servierte er sie Damen und Herren gesetzten Alters – im Seniorenheim. Wir sind weder Chemiker, noch molekularküchenerfahren und wollten deshalb von Rolf Caviezel  wissen, wie diese eigentümliche Symbiose funktionierte und warum die Molekuarküche noch immer  nicht in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Von David Seitz

Sie haben als Molekularkoch in einem Altersheim gearbeitet – in einem Umfeld von dem man meinen sollte, es sei denkbar ungünstig für futuristische, progressive Küche. Wie hat das funktioniert?

Wir haben dort im Prinzip die Kochform neu definiert, also die Techniken der molekularen Küche eingesetzt und Produkte so verändert, dass die alten Menschen sie überhaupt essen konnten. Für Leute mit Schluckbeschwerden beispielsweise konnten wir dafür sorgen, dass die Lebensmittel, die sie essen, im Mund anschließend flüssig werden. Das hatte damals nichts mit Effekthascherei zu tun, sondern einzig und allein mit einem nützlichen Einsatz zum Wohl der alten Menschen. Statt alle Gerichte einfach mit einem Pürierstab durchzumixen haben wir Lebensmittel ganz bewusst in bestimmte Formen gebracht.

 Welches ihrer Experimente hat die meisten Bewohner im Altersheim vom Hocker gerissen?

Das waren viele. Wir haben Flüssigeiten in einen festen Zustand gebracht, sodass sie im Mund dann wieder zerschmolzen. Dazu Aromawatte, der sogenannte Air – eine Art Badeschaum im Mund, beispielsweise eine aufgeschäumte Karotte. Außerdem haben wir Stäuber konstruiert um mit Hilfe von Sprays im Mund Impulse zu setzen. Die Aromawatte und die Sprays waren der absolute Hit bei den Bewohnern.

Sie haben sich ganz bewusst gegen eine Karriere als „normaler“ Koch entschieden. Was fasziniert Sie persönlich so an dem Spiel mit Aggregatszuständen und Texturen?

Für mich ist es diese Grenzenlosigkeit, die faszinierend ist. Ich kann machen was ich will, abgesehen von einigen Regeln, die man einhalten muss, wie zum Beispiel die Lebensmittelverordnung. Dazu kommt der künstlerische Aspekt – ich kann etwas auf dem Teller kerieren, das andere im Prinzip nicht messen können. Bei der molekularen Küche beginnt für mich der Übergang vom Kochen zur Kunst.

Die Molekularküche gibt’s ja nun schon eine ganze Weile, Ferran Adrià begann schon vor 20 Jahren mit molekularen Experimenten – und dennoch führt diese progressive Küche bis heute eher ein Schattendasein. Warum wird der Durchschnittsbürger bei der Abendplanung wohl immer noch nicht sagen. „Heute Abend gehn wir mal schön zum Molekularkoch essen“?

Ich behaupte: Diese Küche hat sich durchgesetzt. In dem Sinne, dass man die Techniken in anderen Küchen bereits übernommen hat. Man denke zum Beispiel an Bubble Tea, wo die Perlen mit Hife von Techniken aus der molekularen Küche hergestellt werden. Bloß heißt es jetzt nicht mehr Kaviar, sondern Bubbles und die Leute trinken das ohne Ende. Würde sie das molekulare Küche nennen, würden alle dankend ablehnen. Da denken viele an Chemie und das schreckt ab.

Das heißt die Molekulare Küche ist eigentlich nichts anderes als eine Technik-Labor, aus dem sich andere Küchen einfach bedienen?

Ganz genau. Wir liefern auch viel Input für die Industrie oder die Lebensmittelzulieferer. Wir erfinden neue Techniken, die dann von anderen abgekupfert werden. Ein Beispiel: Der Rotationsverdampfer, den wir zweckentfremden um Aroma herzustellen. Ich glaube es ist nur noch eine Frage der Zeit bis in den ersten Küchen ein massentauglicher Rotationsverdampfer steht.

Was ist dran am Vorurteil, dass molekulare Küche zu einem Großteil aus Show und Effekthascherei besteht?

Da ist schon ein Stück Wahrheit dran. Als Ferran Adría aufgekommen ist, sind alle Köche auf den Zug aufgesprungen, jeder hatte einen Schaum auf dem Teller, hat ordentlich Lecithin in seine Gerichte reingebuttert  – ohne sich zu fragen: Muss da überhaupt Lecithin rein, damit es schäumt? Da waren viele tatsächlich voll auf Effekthascherei aus. Anschließend haben aber relativ viele wieder dieses Boot verlassen. In der Schweiz bin ich mittlerweile fast der einzige, der diese Schiene noch verfolgt.

Ist es vielleicht sogar ein Glücksfall, dass sie da noch immer dieses Nischendasein führen – weniger Grenzen, also mehr Entfaltungsmöglichkeiten?

Ich sehe das so: Wir möchten keine Top-Bewertungen, keine Michelin-Sterne. Ich möchte frei sein, nicht nach einem Restaurantführer gemessen werden, da ist dieser Status schon hilfreich.

Sie streben also nach künstlerischer Freiheit und Einzigartigkeit, geben aber gleichzeitig Kurse und wollen nach eigener Aussage das Basiswissen über molekulare Küche an alle weitergeben. Wie passt das zusammen?

Es gibt zwei paar Schienen: Die einen treiben es auf die Spitze, da haben Sie – böse gesagt – eine Erbse auf dem Teller, die dann knistert. Ich will die molekulare Küche herunterbrechen und massentauglich machen.  Mir geht’s vor allem darum, den Menschen die Angst vor der Küche zu nehmen.

Eine Angst, die ja viel mit der Assoziation von molekluarer Küche und Chemie zu tun hat. Aber mal ganz ehrlich: muss ein guter Molekularkoch eigentlich auch ein guter Chemiker sein?

Nein, das sage ich immer wieder. Ich kann zwar kochen, Wissenschaft begreife ich jedoch nur zu einem kleinen Teil, aber dafür habe ich Wissenschaftler um mich herum. Das ist vermutlich auch die größte Hemmschwelle: Sich einzugestehen, dass man nicht alles kann und anderen einen Teil der Arbeit an andere weiterzugeben. Diese Zusammenarbeit funktioniert seit vielen Jahren einwandfrei.

Wie und wo findet der wissenschaftliche Austausch statt?

Ich arbeite eng mit Wissenschaftlern vom Max-Planck-Institut zusammen. Wenn ich eine neue Idee habe – ein neues Rezept zum Beispiel, dann wird das eingesandt und untersucht. Wenn ich beispielsweise die Fließeigenschaften oder Farbe verändern will bekomme ich anschließend von Seiten der Wissenschaftler gewisse Inputs, probiere die aus, und schicke das Ergebnis wieder zur Überprüfung zurück. So geht das hin und her, bis es passt.

Mit einem stereotypen Blick auf die Molekularküche hat man ja sofort Aromaperlen und abgefahrene Gelee-Gebilde im Kopf. Gibt es Tricks aus der Molekularküche, die auch in einer gewöhnlichen Alltagsküche Anwendung finden?

Klar, da wäre zum Beispiel die Siphon-Techniken, Espumas oder der Bereich Trocknen mit Dörrapparaten. Sie können beispielsweise schwarze Oliven trocken im Mörser zerkleinern –  daraus entsteht dann eine Art Kohlenstaub. Spiele mit Schokolade und Chilli sind beispielsweise auch gängig, genauso wie das Sous-vide Verfahren, das zur Zeit die Haushalte erobert.

Die molekulare Küche will also irritieren, gewöhnliche Geschmäcker und die dazu gehörenden Konsistenzen komplett entfremden, ist es ein Stück weit auch ein Spiel mit Verwirrung und Ekel?

Ekel nicht, aber ich finde den kommunikativen Aspekt, der durch die Küche entsteht sehr spannend. Wenn ich beispielsweise eine Pastinake und eine rote Peperoni kreuze und anschließend ein Karottenaroma erhalte, dann muss man sich mit dem Teller auseinandersetzen, ich muss mit dem Nachbarn sprechen, weil ich nicht weiß was es ist. Dann öffnen sich die Leute, stellen plötzlich Fragen und ich lerne sie auch von einer anderen Seite kennen.

Verwirrung ist also gewollt…

Na klar, da kommen ja Dinge auf den Teller, die man nicht jeden Tag ist. Aber trotzdem steckt da ein Sinn dahinter. Wenn wir ein Menü kreieren ist das durchdacht, wir setzen uns mit einem Produkt auseinander. Eine Karotte wird dann zum Beispiel in vier Konsistenzen auf einem Teller präsentiert

Das macht es umso erstaunlicher, dass sie diese kognitiv anspruchvsolle Küche im Altersheim praktiziert  haben. War das Teil ihres Plans oder eher ein Zufall?

Das war gewollt. Denken Sie mal an die Bewohner in einem Altersheim, denen man jeden Tag ihre Pasta mit einem Zauberstab püriert, jeden Tag also die selbe Masse auf dem Löffel. Das Auge ist ja auch mit – wenn man nun aber die Konsistenz verändert kann man in bestimmten Fällen Mangelernährung vorbeugen, das war zum Beispiel ein Gedanke. Natürlich hing das auch immer von der Art der Einschränkung ab, aber meistens waren das Schluckbeschwerden. Da haben sie dann zwei Möglichkeiten: Entweder sie kochen die Karotte komplett weich, und pürieren sie sodass alle Vitamine draußen sind, oder sie verwenden einen hochwertigen Karottensaft, geben eine Textur hinein und machen sie so angenehm geschmeidig zum Essen. Wir haben im Altersheim meistens traditionelle und firuristische Küche gekreuzt – damit gerade auch demente Menschen noch einen Anhaltspunkt hatten, sich aber mit den Gerichten auseinandersetzen mussten. Nur futuristisch hätte die Bewohner überfordert.

 Nun kochen Sie in ihrem eigenen Restaurant, geht die Küche dort dann eher in die „futuristische Richtung?

Ich versuche da auch diesen Mix beizubehalten, experimentiere aber auch viel. Das Abgefahrenste bei uns ist wohl ein Pfefferminzspray, das sich die Gäste zwischen den Gängen in den Mund sprühen. Da ist Menthol drin, so kommen sie runter und sind ausgeglichen für den nächsten Gang. Wir veranstalten aber nur einmal im Monat ein Dinner für 8-10 Personen. Bis wir ein Menü ausgearbeitet haben dauert es 6-9 Monate. Eine Karte wie beim Italiener, wo immer das gleiche drauf steht wäre mir zu langweilig.

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