Mein Atem perlt in abertausend winzigen Tröpfchen aus dem Mund und verschwindet im nebligen Dunst des Novemberwaldes. Es ist kalt, fast frostig. Der graue Schleier um mich herum tut sein Bestes, um die Strahlen der Sonne vom feuchten Boden fernzuhalten – und doch schimmert sie fast unmerklich durch die dichte Nebelwand; ihr Durchbruch – nur noch eine Frage von Minuten. Ich gehe über ein Bett aus Sternchenmoos, das den Waldboden an manchen Stellen wie ein gigantischer Teppich überzieht. Ein Mix aus Unwirtlichkeit und Idylle füllt mich aus: Ich bin zu Hause, im Schwarzwald, auf den Spuren meiner Kindheit und auf der Suche nach den heimlichen Stars des Herbstwaldes. Von David Seitz
Die Erinnerungen kehren von ganz alleine zurück, beflügelt durch den Geruch von morschem Holz, süßlich und erdig. Durch die Stille, die nur vom Bersten kleiner Äste durchbrochen wird, vom gebannten Blick auf den von Blättern übersäten Boden. Es sind Erinnerungen an Kindheitstage, die ihre besondere Anmut erst durch die letzten Jahre meines Lebens beziehen. Es ist der Kontrast. Wie oft war ich als kleiner Junge mit meinem Vater durch die Wälder gezogen, auf der Suche nach Pilzen, auf der Suche nach dem überschäumenden Moment des großen Fundes, den nur kennt, wer selbst einmal einen solchen erleben durfte.
Seither sind viele Jahre vergangen. Mein Lebensmittelpunkt hat sich verlagert. Weg aus der dörflichen Idylle, aus dem behüteten Schoß des Elternhauses, mitten hinein in die große Stadt und mit strammem Schritt in Richtung Berufsleben. Erst jetzt, wo mir der Tau eines Tannenzweiges beim Vorbeigehen ins Gesicht peitscht, erkenne ich, wie viel sich seither verändert hat. Diese Ruhe, die mich im Wald umgibt, wirkt berauschend.
Dann stehe ich plötzlich vor einer Wiese. Sie leuchtet braun und gelb – eine Wiese aus Pilzen. Es sind Trompetenpfifferlinge, etwa 300, grob geschätzt. Ich drehe mich um und erspähe ein Pilz-Feld nach dem anderen. Da ist er wieder, der Moment, der den Pilzsammler immer wieder aufs Neue ins Dickicht treibt. Beruhigung: Der Instinkt ist noch intakt. Die meisten Sammler hätten diese edlen Pilze bis vor 5 Jahren wohl abschätzig ignoriert, doch die Trompetenpfifferlinge drängen mittlerweile in die Körbe der Mainstream-Sammler. Das Tolle: Sie treten in Massen auf. Hat man einen entdeckt, ist in aller Regel ein delikates Abendessen gesichert. Manches Jahr schien es mehr ein Pilze-Ernten als ein Suchen zu sein. Mit verlässlicher Regelmäßigkeit fanden wir sie zur selben Zeit an den selben Plätzen.
Dieses Jahr, so sagen meine Eltern, sei das Pilzjahr schlechthin. Zugegeben, das sagen sie immer wieder mal, doch die Bilder, die sie mir schickten, verliehen ihren Worten den nötigen Nachdruck. So sehr, dass ich mich selbst davon überzeugen wollte. Sie hatten Recht. Der Wald steht voller Trompetenpfifferlinge. „Man muss nur hinlaufen und sie holen,“ sagt meine Mutter gerne über dieses Phänomen. Innerhalb einer halben Stunde ist das Körbchen gefüllt – und das, fast ohne dass der Schwund vom Waldboden optisch wahrzunehmen wäre. Ein Glücksfund ist das nicht: Im Radius von etwa 5 Kilometern um mein Geburtshaus könnte ich mindestens fünf Plätze benennen, die Jahr für Jahr für garantierte Glücksmomente sorgen. Weil jedoch kein Pilzsammler seine geheimen Fundstellen verraten würde, will auch ich nicht mehr preisgeben, als ich sowieso schon getan habe.
Der Weg führt hinaus aus dem Wald, auf eine Lichtung, die noch von Nebelschwaden belagert wird, als ich sie erreiche. Losgelöst von jeglicher religiöser Symbolik verleiht das große Steinkreuz der Szene eine beängstigende Mystik, die von den ersten Sonnenstrahlen sogar noch intensiviert wird, bis die Wärme den Nebel langsam vollständig vertreibt und sich die Stimmung innerhalb von Minuten grundlegend wandelt. Keine Spur mehr vom frühmorgendlichen Dunst, stattdessen orange-warmes Licht, das den pastellfarbenen Herbstwald perfekt in Szene setzt. Nun ist Vorsicht geboten – bei jedem Schritt, denn unter der dichten Laubschicht verstecken sich die wahren Schätze des Pilzkenners: Totentrompeten.
Totentrompeten klingt zunächst einmal nicht allzu verheißungsvoll. Doch genau wie ihre unscheinbare Optik ist auch dieser Name nichts als geschickte Irreführung. Gut 15 Euro bezahlt der Feinschmecker für 100 Gramm Totentrompeten – getrocknet wohlgemerkt. Mit einem extrem intensiven und charakteristisch würzigen Geschmack ist dieser Pilz nach Expertenmeinung sogar dem Pfifferling überlegen. Der Experte bin in diesem Fall ich und der Vergleich mit dem Pfifferling macht zugegebenermaßen auch nur begrenzt Sinn. Denn Totentrompeten kommen in der Küche fast ausschließlich in getrockneter Form zum Einsatz. Sie würzen Saucen, ergeben eingeweicht ein vorzügliches Risotto und verleihen Butter im Zusammenspiel mit Knoblauch ein völlig neuartiges Aroma. Umami pur wenn man so will.
Leider ist der Herbst bereits weit fortgeschritten, ich finde nur noch einzelne Exemplare, dahingerafft vom ersten Frost, der die Pilze ungenießbar macht. Doch mit der Gewissheit, dass ich aus dem erlterlichen Vorrat das ganze Jahr über zehren darf, gehe ich souveränen Schrittes an den Ruinen der einstigen Totentrompeten-Pracht vorüber. Der Herbstwald lässt indes seine Reize spielen, raschelt mit seinem Laub, lässt stahlblauen Himmel durch kahle Baumkronen schimmern und gibt einige Minuten später den Blick frei hinab ins Tal. Erhaben präsentieren immergrüne Tannen dort ihre Wipfel, ein einsames Nebelwölkchen erinnert noch mit letzter Kraft an die Trübheit des frühen Morgens. In einer Hand den Pilzkorb, in der anderen Hand die Kamera als einzige glaubhafte Zeugin eines erinnerungsschwangeren, halbwegs surrealen Pilz-Trips.