Was schenkt man einem zum Geburtstag, der gerne kocht, gerne über Essen spricht und auch noch sein kulinarisches Gedankengut in dieses Internet schreibt? Die Menschen in meinem Umfeld glaubten lange, sie hätten es leicht bei der Auswahl eines passenden Geschenks für mich. Der Klassiker geht doch immer – ein Kochbuch! In meinem Wohnzimmer hat sich über die Jahre eine ganze Palette an Kochbüchern aufgetürmt, die ich in meinem Leben noch nie angefasst habe. Angefangen von „Die besten Nudel-Gerichte“ bis hin zu „Schnelle Dips und Aufstriche.“ Irgendwann begann ich das Thema vorsichtig anzusprechen – schade war es um jedes einzelne ungenutzte Buch. Seither muss die Verwandtschaft am Geburtstag mehr Hirnschmalz investieren, es tut mir Leid.
Kochbücher in Zeiten der Digitalisierung
Seit ich mich intensiv mit Essen und Kochen auseinandersetze, hat sich meine Art, Koch-Content zu konsumieren, drastisch verändert. Wahrscheinlich auch deshalb, weil ich damit in eine Zeit des rasanten digitalen Wandels hineinplatzte. Ich lernte also Kochen mit Tablet und Smartphone in der Hand. Zwar besitze ich heute rund 10 Kochbuch-Schmöker, die ich regelmäßig lese, doch nur in den seltensten Fällen lese ich sie beim Kochen. Kein Witz: Kochbücher sind für mich gute Nacht-Lektüre. Das klassische Rezepte-Kochbuch hat allerdings ausgedient – zumindest in meinem Universum. Am 19. Oktober werde ich zu diesem Thema einen kleinen Vortrag auf der Frankfurter Buchmesse halten.
Ich gehöre zu einer Generation, deren Facebook-Stream alle lebenswichtigen Informationen für den Tag bereitstellt: Meine ideale Dosis Nachrichten, eine Prise News von Freunden, was zum Schmunzeln und vor allem Koch-Inspiration. Über die Jahre hinweg habe ich Dutzende, wenn nicht Hunderte Koch-Kanäle abonniert und einige von ihnen auch schnell wieder abbestellt. Zudem erkennt Facebook, welche Inhalte ich anklicke und welche mir offenbar weniger gut gefallen. Der Algorithmus sorgt dafür, dass irgendwann nur noch Inhalte meiner absoluten Favoriten angezeigt werden. Mittlerweile spült mir Facebook deshalb nur noch meinen persönlichen „Premium-Koch-Content“ in die Timeline, sprich: Genau jene Inhalte, auf die ich immer wieder klicke, weil sie mich fast immer ansprechen. Das sind Blogs, Star-Köche, Restaurants und Magazine. Meine individuelle Auswahl an Koch-Inspiration ist dank Facebook derart maßgeschneidert, dass kein anderes Medium auch nur ansatzweise diese hohe Trefferdichte erreicht. Schon gar nicht ein Rezept-Kochbuch.
Bei Pinterest – einer Plattform, auf der ich Inspirationen aus dem Internet für mich übersichtlich sammeln und sortieren kann – laufen die Highlights aus meinen Social-Media-Streams ein. Nur was zu 100% meinen Geschmack trifft, landet dort. Der Mechanismus hat sich mittlerweile eingeschliffen: Facebook und Instagram filtern grob vor, die Crème de la Crème landet dann auf meiner Pinterest-Pinnwand „Nachkochen.“ Wenn ich voller Kochlust nach Hause komme, weiß ich genau, wo ich die wirklich allerbesten Rezepte finde. Ein Klick in die App und ich stehe vor der Qual der Wahl.
Rezept-Bücher werden aussterben
Ich habe ganz bewusst den Vergleich gesucht und mich nach Feierabend mal durch meine Sammlung Rezept-Kochbücher geblättert. Das Ergebnis war ernüchternd. Unterm Strich blieb ich alle 10 Seiten hängen, um mir ein Rezept genauer anzuschauen. Der Rest war Ausschuss. Mal gefiel mir das Bild nicht, mal erschien mir die Kombination aus Zutaten seltsam oder langweilig. Eine Trefferquote von gerade mal 10%? Das reicht in Zeiten der Online-Rezeptrecherche einfach nicht mehr aus, um konkurrenzfähig zu bleiben.
Ich habe im Verlauf dieses Textes bewusst die Unterscheidung zwischen Rezept-Kochbuch und Kochbuch getroffen, denn darin liegt für mich der Schlüssel für die Zukunft des Kochbuchs. Eine reine Aneinanderreihung von Rezepten mit Zutaten und Zubereitungsanleitung kann heute nur noch im Ausnahmefall zum Erfolg führen. Google liefert mir für jede nur vorstellbare Kombination ein Rezept binnen Sekunden. (Spontaner Versuch: „Artischocke, Blaubeeren, Frischkäse“). Kostenlos! Der Mehrwert eines reinen Rezept-Kochbuchs ist viel zu oft gleich null.
Die Frage ist: Was kann ein Kochbuch besser als das Internet? Wo beginnt das Netz zu schwächeln? Wo liegt der Unique Selling Point von analogem Koch-Content? Es gibt in meinen Augen eine Reihe von Ansatzpunkten, die sich mit einem Satz zusammenfassen lassen: Kochbücher müssen heute tiefer schürfen als Facebook & Co. Wie muss das Kochbuch der Zukunft also aussehen?
Spezifisch
„Die besten Pasta-Rezepte“ ist ein gutes Beispiel für einen völlig unspezifischen Kochbuch-Ansatz. Der Streuverlust ist enorm, denn unter Pasta-Fans gibt es Allergiker, Italien-Fans, Vegetarier, die die es gerne deftig mögen, Weizenmehl-Verweigerer etc. Bei 100 Pasta-Rezepten wird man keinem von ihnen gerecht werden können. 15 Euro wird in Zukunft niemand mehr ausgeben, wenn er/sie sich nicht zu 100% in der eigenen Genusszone abgeholt fühlt.
Je spezifischer der Zugang, desto genauer lässt sich eine Zielgruppe treffen und glücklich machen. Das ist ein Grund dafür, dass spezifische Ernährungsthemen wie Low-Carb oder Paleo momentan so gut funktionieren. Wer ein Low-Carb-Buch kauft, tut das vor allem aus Abnehm-Gründen und nicht vorrangig aus Genuss-Gründen. Da spielt es eine untergeordnete Rolle, ob jedes Rezept exakt den persönlichen Geschmack trifft. Das Versprechen ist: Diese Rezepte enthalten wenig Kohlenhydrate und jedes einzelne Rezept erfüllt dieses Versprechen. Der Leser bekommt exakt das, was er will und zwar auf 100 von 100 Seiten und dazu noch eine Einordung über Stoffwechselprozesse im Körper. So macht man Leser glücklich.
Wissenschaftlich
Apropos Stoffwechsel: Bücher wie „Fermentation“ von Heiko Antoniewicz, „Sous-vide“ von Hubertus Tzschiner oder „Das Festival-Kochbuch“ von Stevan Paul ziehe ich immer wieder als Beispiele für einen Kochbuch-Ansatz heran, der Zukunft hat. In diesen Büchern stehen nicht die Rezepte an vorderster Stelle, sondern ein Thema, das mit wissenschaftlichem Touch akribisch aufgearbeitet wird. Während das Internet den Leser mit dem Rezept oft alleine lässt, ist das Rezept in diesen Büchern nur der Einstiegspunkt zu einem Exkurs in unbekanntes Terrain, an dessen Ende ein echter Erkenntnisgewinn steht. Will ich verstehen, was hinter dem Prozess des Sous-vide-Garens steckt, kann ich mir die Informationen natürlich auch mühsam im Internet aus 10 Quellen zusammenklauben und hoffen, dass kein König des Halbwissens am Werk war. Oder aber ich investiere in ein Buch, zapfe das Wissen eines anerkannten Experten an und genieße 100 Seiten ausgefeilter Ausführungen, denen ich vertrauen kann. Will ich selbst zu einer Art-Mini-Experten werden, führt auch in Zeiten des Internets kein Weg an einem Koch-Fachbuch vorbei. Bücher genießen (in den meisten Fällen) zurecht einen Vertrauensvorschuss.
Kochen können und fundiertes Hintergrundwissen über Lebensmittel und Garprozesse zu erlangen macht (zum Glück) sexy. Immer mehr junge Menschen sehen im Genuss nicht nur schnelle Bedürfnisbefriedigung, sondern Leidenschaft. Der Drang nach Perfektion am Herd nimmt zu, das sehe ich im Blog. Wer tief in die Materie des Kochens eindringen will, stößt im Internet irgendwann an Grenzen, die (zur Zeit noch) nur ein Fachbuch überwinden kann.
Persönlich
Nur wenn es menschelt, entsteht Vertrauen. Auf Chefkoch.de vertraue ich schon lange nichts und niemandem mehr. Wenn „susi67“ mir hinter ihrem Avatar eines rosa Kaninchens Ratschläge zum Sous-vide-Garen gibt, dann werde ich skeptisch. Wenn Yotam Ottolenghi mir im Vorwort seines Werks entgegenlächelt, mir seine Philosophie des Kochens näherbringt und mich auf jedem der Rezepte mit einer Anekdote zu dessen Entstehungsgeschichte begleitet, dann wächst in mir ein wohliges Gefühl des Vertrauens. Dann entsteht das Gefühl, dass viel Leben und Herzblut in ein Rezept geflossen sind. Erst dann bin ich auch bereit, eine Kombination zu testen, die mir bis dato seltsam erschien. Wenn Yotam das empfiehlt, ist es einen Versuch wert. Wenn der anonyme Autor hinter „Die 10 besten Pasta-Rezepte“ sagt, ich solle Dosen-Mandarinen in meine Sahnesauce kippen, dann klappe ich das Buch zu. Vertrauen entsteht, wenn ein Autor aus dem Schatten seines Werks hervortritt. Mit Ehrlichkeit, Anekdoten, Humor und Fachwissen. Rezepte allein können keine Persönlichkeit schaffen.
Disruptiv
Manchmal bin ich aber auch durch ganz einfache Mechanismen zu ködern. Als ich die spektakulären Bilder in Modernist Cuisine at Home zum ersten Mal gesehen habe, war es um mich geschehen. An Weihnachten lag das Buch unterm Baum und seither verliere ich mich einmal die Woche in den Aggregatzuständen eines gekochten Eis und im Blick in aufgeschnittene Gemüsebeete. Außergewöhnliche und aufwändige Fotografie, ein neuartiger Schreibstil, ungewohnte Materialien oder ein revolutionäres Layout sind der beste Kochbuch-Köder. Haptik und Optik eines Kochbuchs sind durch keinen E-Reader zu ersetzen. Wer es schafft, in der Inszenierung von Rezepten auf sinnvolle Art und Weise aus der Masse an Kochbüchern auszubrechen, hat den ersten Schritt in Richtung Erfolg vollzogen. Wer einen so alltäglichen Prozess wie das Kochen auf disruptive Art und Weise einfängt und über das reine Rezept hinaus erlebbar macht, wird auch in Zukunft Kochbücher verkaufen.
Du triffst den Nadel auf den Kopf! Ich habe mich oft gefragt, wieso ich so viele Kochbuchveröffentlichungen so meh finde und mich im Netz nicht sattklicken kann. Dank Deiner Analyse weiß ich’s jetzt – und freue mich noch ein bisschen mehr über die dahingehend „kuratierte“ (und schmale) Kochbuchsammlung (und Pinterest, my love).