Die Idee kam spontan und hatte doch eine lange Vogeschichte: Wir fahren für ein paar Tage in die Steiermark. Eine der wenigen Ecken Österreichs, die ich noch nie erkundet habe, besetzt nur mit vagen Assoziationen. Eine dieser Assoziationen ist Harald Irka. Seit ich vor etwa fünf Jahren im österreichischen Standard einen himmelhochjauchzenden Artikel über ihn gelesen hatte, schwirrte der Wunsch, bei ihm zu essen, in meinem Kopf umher. Allein die Distanz zwischen München und Graz hinderte mich bislang daran, das schon früher in die Tat umzusetzen. Immer wieder hallte in der Zwischenzeit der Grundtonus dieses Artikels nach (ich kann ihn leider nicht mehr finden). Harald Irka – eine Ausnahmeerscheinung, ein Jahrhundert-Talent, der Shooting Star. Um diese Weihen besser nachvollziehbar zu machen, muss man die Vita von Harald Irka kurz umreißen.
Harald Irka
Mit 19 beginnt Irka 2011 die Küche der Saziani Stuben der Familie Neumeister im steirischen Vulkanland zu führen. Das allein ist eine Meldung wert. Ein renommiertes Weingut setzt auf einen noch unbekannten Emporkömmling als Aushängeschild des Unternehmens. In den Folgejahren macht dieser Harald Irka mit wahnwitzig regionalen und gleichzeitig enorm elaborierten Menüs auf sich aufmerksam und entwickelt so schnell eine eigene Handschrift, dass Gäste nicht mehr nur wegen des Weins nach Straden zu den Neumeisters fahren. 2013 wird er von der heimischen Gastro-Szene zum Auftseiger des Jahres gekürt. Der kräuter- und naturverliebte Koch gräbt heimische Zutaten aus, die keiner mehr kennt und kombiniert sie unkonventionell und schockierend aufregend. Die Saziani Stuben erleben unter Harald Irka einen enormen Zulauf und werden zu einer der wichtigsten Anlaufstellen für Gorumets in ganz Österreich. Das ist der Stand 2018 und gleichzeitig mein letzter. Das merke ich, als ich vor meiner Steiermark-Reise in den Saziani-Stuben bei Irka reservieren möchte.
Von den Saziani-Stuben in den Pfarrhof
Seit ich 2018 zuletzt neugierig ins Menü der Saziani Stuben gelesen hatte, ist nämlich viel passiert. Aus dem medial abgefeierten Emporkömmling ist ein 28-jähriger Spitzenkoch mit eigenen Visionen geworden. 2019 verlässt er die Saziani Stuben, um mit Tom Riederer in der Südsteiermark ein neues Epizentrum der steirischen Genusskultur aus einem abgelegenen Flecken Erde emporzuhieven. St. Andrä-Höch. Der alt-ehrwürdige Pfarrhof einer winzigen Gemeinde nahe der Weinstraße. Ich buche also um und reserviere auf Empfehlung von Annette Sandner gleich ein Zimmer mit („du musst dort übernachten!“). Die Bilder der Räumlichkeiten liefern sich kurz einen inneren Ringkampf mit den Übernachtungspreisen, doch wir sind auf Reisen, da gelten andere Gesetze. Außerdem deuten sich 30 Grad im Schatten an und die Unterkunft hat einen Pool. Mit Blick in die Weinberge. Und abends nach dem Essen einfach ins Bett fallen – ein schlagkräftiges Argument.
Der Pfarrhof in St. Andrä-Höch
Der Pfarrhof in St. Andrä ist eines der diversen Projekte von Tom Riederer, der als Quereinsteiger die Gastro-Branche in ähnlichem Stil aufmischte wie Irka. Gleichzeitig hat Riederer ein Faible fürs Renovieren und Umgestalten alter Immobilien. Dem Pfarrhof im Provinzdorf St. Andrä gab er mit seiner Rundumerneuerung eine Anmut, die man bereits beim Anfahren spürt. Der Rasen rund um die alten und doch neu verputzten Gemäuer leuchtet grün, Weinreben greifen die steirische DNA sanft auf und eingelassene Steinplatten leiten den Weg in Richtung Rezeption. In der brandneuen Küche bereitet Harald Irka das Abendmenü vor, es riecht nach Ras el Hanout. Was wir erst später erfahren: Es ist der letzte Abend der einstigen Vierer-Konstellation aus Tom und Katarina Riederer und Harald Irka mit seiner Lebensgefährtin Lisa Gassner. Die Riederers verabschieden sich an diesem Abend dauerhaft nach Istrien und übergeben die Geschicke des Pfarrhofs an das junge Paar Irka/Gassner, das dort – einzig mit einem weiteren Mitarbeiter – von nun an logiert und wirkt. Lisa Gassner ist es auch, die uns am späten Nachmittag begrüßt und uns zum bezugsfertigen Zimmer führt. Wobei es sich dabei weniger um ein Zimmer, als vielmehr um ein imposantes Gewölbe handelt, das absolut akkurat und stilbewusst eingerichtet ist.
Übernachten am Pfarrhof
Der alte Pferdestall, den die Riederers zu sechs Gästezimmern umgebaut haben, ist für mich essentieller Teil des Pfarrhof-Erlebnisses. Ein Raum, der binnen weniger Sekunden extrem viel Gefühl ausstrahlt. Angenehme Kühle, extrem hochwertige Materialien, perfekte Pflege und einen ausgeprägten Sinn für Innenarchitektur. Tritt man auf die Terrasse, blickt man über den kleinen Pool in die Ferne in Richtung der Weinstraße, eingefasst von den hauseigenen Rebstöcken. Rückblickend strahlt dieser Ort schon bei der Ankunft für mich all das aus, was mich an der Steiermark fasziniert: Der Sinn für Genuss und Gastlichkeit, reizvolle Landschaft und Wein. Wir verbringen den Nachmittag im Pool, voller Vorfreude auf das Abendmenü.
Das Menü von Harald Irka
Das Menü, auf das ich im Grunde seit Jahren hingefiebert hatte, hält, was ich mir davon versprochen habe. Das klingt nüchtern, ist für mich aber beeindruckend, wenn man bedenkt, wie (vielleicht sogar überzogen) hoch meine Erwartungshaltung angeschwollen war. Allerdings sind die einzelnen Komponenten der Menüfolge deutlich klassischer als ich es mir vorgestellt hatte. Ich hatte noch den kräuterwütigen Irka aus seinem Kochbuch Terroir im Kopf, der mit Fermenten, Milchprodukten und Wiesengewächsen sein Menü gestaltete. Das Menü, das wir an diesem Abend erleben, mündet in einem Hauptgang aus Kalb, Sellerie und Zwiebel. Ein extrem guter Hauptgang, aber einer, den ich bis dato nicht mit der irkaschen Küche verbunden hätte. Allerdings – das muss an dieser Stelle gesagt werden – ist das vor allem der Tatsache geschuldet, dass ich die letzten Jahre von Harald Irka kaum verfolgt habe und auch die Einflüsse von Tom Riederer auf Irkas Küche im Pfarrhof nicht beurteilen kann.
Dann also rein ins Menü! Die ersten sechs Häppchen sind für mich im Grunde schon das große Highlight. Sechs Kombinationen, die sich allesamt irgendwo zwischen völlig überraschendem und bewährtem auf den Punkt gekochten Wohlgeschmack bewegen – jede für sich so fein gearbeitet, dass ich gerne noch zwei Platten davon geordert hätte. Von links nach rechts: Garnelen-Tatar im Tartelette, Ananas mit Jalapeno, Broccholi mit Reisflocken und Miso, Kartoffel mit Saiblingskaviar, Rote Bete mit Kapaunenleber und (wir erinnern uns, der Geruch der Ankunft) Ras el Hanout, gebackenes Gehackertes und eine Duroc-Rohwurst.
Zucchini, Kohlrabi, Yuzu, Curry, Pistazie
In der weiteren Folge erleben wir ein Menü, in dem kein Gang massiv abfällt und bei dem doch zwei Gänge für mich herausstechen. Zum einen ist das der Gemüse-Gang aus rohen Zucchini und Kohlrabi-Röllchen mit Pistaziencreme gefüllt, von (da sind sie doch!) Wiesenkräuter-Noten akzentuiert und angegossen mit einer Yuzu-Butter-Sauce. Dazu dezente Curry-Anklänge. Ein Gang, den ich auf einer Karte niemals gewählt hätte, weil ich eine latente Abneigung gegenüber der inflationär genutzten Yuzu und Curry grundsätzlich hege. Die pure Harmonie genau jener Zutaten in diesem Gang überrascht mich komplett. Ich liebe es, wenn ein vegetarischer Gang so vollmundig daher kommt, dass man einfach nur glücklich ist, kein Fleisch als Füllmaterial auf dem Teller zu haben. Das gelingt hier perfekt.
Highlight zwei ist der erste Dessert-Gang. Wieder ist es eine für mich zunächst kaum nachvollziehbare Kombination – in diesem Fall aus Feigensenfeis, getrockneten Karotten, Kokos Panna-Cotta und einem mit Rum aromatisierten Carrot Cake. Und es ist derselbe Effekt. Das Zusammenwirken dieser Komponenten auf einem Löffel mündet in einem derart stimmigen Gesamtgeschmack, dass ich mir vornehme, keine vorschnelle Urteile mehr über Aromen-Kompositionen zu üben, bevor ich sie nicht probiert habe. Hinzu kommt das Zusammenspiel aus Temperaturen und Texturen, das dem Gericht auch eine haptisch faszinierende Ebene verleiht. Kurzum: Grandios.
Die Gänge dazwischen: Eine geschäumte Erbsensuppe, ein sehr gut gegarter Seeteufel in einem enorm umamilastigen Sud, das angesprochene Kalb und ein zweites Dessert (Mousse, Eis und Creme mit Beeren). Allesamt auf sehr hohem Niveau, aber nicht ganz so mitreißend, wie die oben beschriebenen Highlights.
Das Pfarrhof-Erlebnis
Rückblickend ist es für mich weder das Menü noch der Ort alleine, die für mich den Reiz unseres Aufenthalts am Pfarrhof ausmachen. Es ist das Gesamtpaket, das einem vom ersten Moment an ein wohliges Gefühl gibt. Von den ersten Metern auf weichem Rasen, über den ersten Blick ins Zimmer für die Nacht, den Sprung in den Pool, das kühle Jahrgangs-Bier auf der Terrasse, das Dinner bei offenem Fenster mit lauwarmem Wind im Nacken bis hin zum Ausklang auf der Terrase vor dem Zimmer bei einem Glas Wein, den die Gastgeber für uns ausgesucht haben. Das liebevoll gedeckte Frühstück (kein Buffet, sondern ein eigener Tisch voller guter Dinge) macht den Abschied verdammt schwer und schafft unmittelbare Anreize fürs Wiederkommen – an einen Ort, der für mich alle Reize der Steiermark an einem Fleck bündelt.
Disclaimer: Der Besuch im Pfarrhof erfolgte auf eigene Kosten
Welch wundervolle, sinnliche und atmosphärisch dichte Beschreibung des Irka-Erlebnisses – danke für’s „Miterlebenlassen“. Irkas neue Wirkungsstätte in St. Andrä steht ganz oben auf meiner Liste, war aber coronabedingt unerreichbar. Ich war in einer von Irkas letzten Wochen in der „Saziani-Stubn“ in Straden, das war extrem beeindruckend: neben einem deutlich regional inspirierten Menü namens „Süd Ost“ gab es auch ein Menü, das Fische und Krustentiere vom Fischmarkt aus Triest in den Mittelpunkt der einzelnen Gerichte rückte. Beides exzellent – als amuse-gueule gab es 8 Kleinigkeiten, darunter solche komplexen Petitessen wie „Zucchini, Hendlleber, Pfirsich, Kreuzkümmel“ oder „Saiblingshaut, Salzzitrone, Oxalis“: es sah etwas aufwendiger gearbeitet aus als auf den Fotos hier, und durch die Anrichteweise auf einzelnen Tellerchen auch wesentlich generöser.
Besonders stark fand ich jene Gerichte, die sich auf zwei, drei herausragende Einzelkomponenten fokussierten: Scampi aus der Kvaner Bucht mit Mais und Steinpilzen etwa. Das fand ich – nicht zuletzt wegen einem sehr beherzt eingesetzten Aromenradius von salzig, süß und scharf – aufregender als die „große Hafenrundfahrt“ mit zahlreichen einzelnen Zutaten: „Karottenvielfalt mit Tamarinde, Walnuss und Weinraute“ las sich dann aufregender, als es letztlich schmeckte.
In der Saziani-Stubn fand ich die Korrespondenz mit teils sehr gut gereiften Weinen aus dem Neumeister-Keller besonders interessant. Da würde mich interessieren, wie sich das in St. Andrä verhält. Und das am Tisch servierte Frühstück am nächsten Morgen im Wintergarten der Saziani-Stubn führte den kulinarischen Spannungsbogen vom Abend in den neuen Tag – dieser Brauch scheint ja an Irkas neuer Wirkungsstätte fortzubestehen: ein Glück!
Hallo Holger,
erstmal ganz lieben Dank für deinen erneut ausführlichen Kommentar. Das freut uns ehrt uns sehr! Vielleicht liest du zwischen den Zeilen durch, dass ich das Menü sehr genossen habe, aber beispielsweise nicht so „geflashed“ wie bei meinem Besuch im Sosein. Irkas Menü war mir rückblickend schon fast einen Hauch zu erwachsen, ich hatte auf mehr Kräuter, mehr fermentiertes, mehr unerwartetes gehofft. Handwerklich war es aber hervorragend, nur die recht klassische Handschrift der Hauptgänge war für mich unerwartet. Die Weine ware allesamt spektakulär, viele Naturweine mit dabei – dabei habe ich allerdings nicht den Neumeister-Vergleich und bin auch auf dem Weingebiet weit nicht so erfahren wie im kulinarischen. Die alkoholfreie Begleitung war für mich noch aufregender, also unbedingt beides probieren.
Liebe Grüße und ganz viel Freude!
David
Ganz lieben Dank für die erläuternden Worte! Dann habe ich es doch richtig verstanden, dass Deine Erwartungshaltung bezogen auf Produkte, Verarbeitungstechniken und Überraschungseffekte von Irka nicht vollständig erfüllt worden ist.
Tja, das „Sosein“… – da habe ich hier gerade Deinen mitreißenden, begeisterten Bericht gelesen. Herzlichen Dank dafür; Deine Eindrücke haben dazu beigetragen, dass ich meine Erfahrungen bei meinem Besuch dort nun in einem neuen, versöhnlicheren Licht sehe.
Ich war mit einer kleinen Gruppe von kulinarisch interessierten Freunden dort, und fand den Abend seinerzeit seeeeehr mühsam. Diese extrem ausführlichen Erläuterungen zu allen Komponenten und konzeptionellen Ideen, diese nachdrücklichen Hinweise, wie aufwendig das doch alles zu beschaffen gewesen sei – einer aus unserer Truppe ist Lieferant der Sterne-Gastronomie und meinte nach dem dritten Monolog über die Schwierigkeiten der Gemüsebeschaffung: „Hätte er mich mal gefragt, ich habe das Lager voll mit dem Zeugs!“.
Der Besuch im „Sosein“ war der Auftakt unserer kulinarischen Tour durch Mittel- und Oberfranken, und wir lästerten auf unserer Reise noch oft über das „Sprechtheater Heroldsberg“, wie wir das Restaurant umtauften.
Mit einigem Abstand, vor allem aber versorgt mit Deinen atmosphärisch dichten Beschreibungen, sehe ich den Besuch von damals in anderem Licht: da war ein engagierter Gastronom, der wirklich alles gegeben hat, um eine Gruppe von alten, offenbar wenig begeisterungsfähigen Säcken zu begeistern und mitzureißen, und für seine Küchen-Mission zu werben. Dass man da auch mal über das Ziel hinausschießt: geschenkt. Jedenfalls hätten wir offener sein müssen. Kulinarisch war das jedenfalls alles sehr, sehr gut, die meisten Gerichte hatten eine tolle Binnenspannung und einen deutlichen Aromen- und Produktfokus; ästhetisch arrangiert war es auch.
Das schreibe ich jetzt einfach mal hier hinein, um dem schönen Bericht über das „Sosein“ nichts von seiner Wirkung zu nehmen.