Rotaugen sind wunderschöne Fische, mit ihrem silberblau glänzenden Schuppenkleid, orangeroten Bauchflossen und den fast schon bedrohlich rot leuchtenden Augen. Sie kommen in westeuropäischen Seen in Massen vor und vermehren sich dort munter – selbst in direkter Umgebung von Raubfischen wie dem Hecht. Ihr Fleisch ist weiß, saftig und mild-süßlich. Rotaugen wären so etwas wie der perfekte heimische Speisefisch: nicht bedroht, anspruchslos, leicht zu fangen, wohlschmeckend. Wären da nicht die vielen sperrigen Gräten, die dem einfachen Genuss im Weg stehen.
So kommt es, dass die meisten Fischer Rotaugen höchstens als Köder verwenden, um klassische, grätenarme Speisefische zu fangen. Zander, Hecht und Aal beißen besonders gerne an bei Rotaugen. Und weil diese sogenannten „Edelfische“ so leicht zu zerlegen sind, sind sie so beliebt. Bis man ein Rotauge auf einer Speisekarte findet, muss man hingegen lange suchen.

Aus der Tiefe des Sees
Als ich mich um 7.45 Uhr mit Berufsfischer Benni Mayr am Steg des Traunsee-Hotels in Traunkirchen treffe, hat es gerade aufgehört zu regnen und der See liegt spiegelglatt vor mir. Benni hat auf dem Weg schon die ersten Netze eingeholt. Seine Beute des frühen Morgens liegt bereits im Boot: eine große Brachse und etwa zehn Rotaugen. Ich steige in das schmale, tiefe Fischerboot und wir fahren hinaus auf den See. Zwei weitere Netze sollen geleert werden. Als zehn Minuten später die ersten Nylon-Maschen über die Bootswand glitschen, ist klar: Es wird ein fischreicher Vormittag.
„Die Netze stehen vertikal im Wasser. Unten mit Blei beschwert und oben mit einem Schwimmer“, erklärt mir Benni Mayr das System der Stellnetze. Die Maschen des Netzes sind für die Fische nicht sichtbar und so schwimmen sie ungebremst hinein. Wie bei einer Reuse ist der Weg hinein leicht, ein Zurück gibt’s allerdings nicht mehr, wenn Kiemen oder Schuppen einmal „eingerastet“ sind. „Wir kontrollieren die Netze hier täglich, damit kein Fisch länger als 24 Stunden zappeln muss“, erklärt Mayr. Über die Größe der Maschen und die Standtiefe der Netze können die Fischer ein Stück weit beeinflussen, welche Fische hängen bleiben. Am Ende ist der Faktor Gefühl und Glück aber mitentscheidend über den Fangerfolg.

See-Symbiose
„Das ist ein Glückstag“, schnauft Berufsfischer Benni Mayr 20 Minuten später. An diesem Morgen passt alles: Im Laufe der vergangenen 24 Stunden scheint ein ganzer Schwarm durchs Netz gezogen zu sein. Ein Rotauge nach dem anderen wird im tiefen Blau des Sees sichtbar – erst schemenhaft das Sonnenlicht reflektierend, dann immer klarer, je näher das Netz der Wasseroberfläche kommt. Mit den Kiemen haben sich die Fische in den Maschen verhängt. Jetzt werden sie herausgeschält und landen im großen Bottich an Bord. Nach einer Stunde sind alle Netze geleert. Die Ausbeute: fast 30 Kilo Rotaugen, ein kleiner Hecht und eine Renke. An anderen Tagen gehen auch mal Karpfen, Saibling, Seeforelle, Waller oder Zander ins Netz.
Für die meisten Fischer wäre die Ausbeute, die Mayr an diesem Tag macht, womöglich eine kleine Enttäuschung. Nomalerweise lassen sich nur mit den bekannten Edelfischen gute Kilopreise erzielen. Bei Benni Mayr ist das anders. Er hat seinen eigenen Deal gemacht – mit einem, der ihm alle Fische abnimmt, unabhängig von Art und Menge. Jeden Tag. Jeden Fisch. Um 11 Uhr stehen 25 Kilo Rotaugen in der Küche des Traunsee-Hotels in Traunkirchen. Wildfisch aus dem See, keine 30 Minuten nach dem Fang. Ausgenommen und geschuppt. Ein Luxus, für den der damit umgehen kann.

Der Fischer und der Koch
Lukas Nagl kann das. Er ist der Culinary Director der Gröller Hospitality Gruppe, die in Traunkirchen am Traunsee einen einzigartigen kulinarischen Kosmos geschaffen hat – in enger Symbiose mit dem See und ihren Fischern. Nagl ist ein Süßwasserfisch-Freak im besten Sinne. Erlebbar wird seine fast schon nerdhafte Expertise in allen gastronomischen Outlets, die er in Traunkirchen betreibt. Er kauft täglich den gesamten Fang von Benni Mayr und den anderen Seefischern, zu einem pauschalen Kilopreis – unabhängig davon, was ins Netz gegangen ist. Für ihn sind 30 Kilo Rotaugen genauso viel Wert, wie 30 Saiblinge oder ein großer Wels.
Das Fischverwertungssystem von Lukas Nagl ist gerade deshalb so stark, weil die Bandbreite der Konzepte so groß ist: von kleinteiliger Haute Cuisine im „Bootshaus“ über moderne Produktküche in der „Béletage“ bis hin zu fischlastiger Heimatküche im Wirtshaus. Dazu kommt die Genießer-Pension mit Abendessen und Frühstücksbuffet. Damit stehen ihm täglich vier bis fünf Kanäle zur Verfügung, in die der topfrische Fisch einfließen kann. Mit dieser Verantwortung geht Nagl regelrecht spielerisch und gleichzeitig hocheffizient um.

Fischküche ohne Firlefanz
Im Bootshaus serviert das Team um Lukas Nagl ein ausgefeiltes Menü in fünf oder sieben Gängen, das sich auf Fisch fokussiert, aber auch Fleisch aus dem Traunsee-Umland nicht ausschließt. Der Reigen an Amuse-Bouches ist mit sieben feinsinnig inszenierten Kleinigkeiten ein beeindruckender Auftakt. Das Menü selbst setzt Süßwasserfisch in den Kontext der Saison und Region. Dabei kommt die gesamte Speisenfolge ohne artifizielle Techniken aus: keine Schäume, keine Gels, keine Sphären. Lukas Nagl muss laut lachen, als ich den confierten Hechtrogen als Jelly interpretiere „Sowas machen wir hier nicht“, entgegnet er grinsend. Es geht um Produkte – von Sekunde eins an. Bestes Beispiel: eine Aal-Brandade, angerichtet auf einer betörenden Beurre blanc aus brauner Butter, getrockneten Steinpilzen, gebunden mit geräuchertem Hechtrogen. Purer Wohlgeschmack.

Küche im Takt des Sees
In der „Belétage“, gerade frisch ausgezeichnet als Eröffnung des Jahres, sitzt man (wenn man möchte) am Küchentresen und lässt sich einfach auf das ein, was Küchenchef Max Deuker (vorher: Sexy Fisch, London) gerade in der tagesaktuell befüllten Kühlschublade findet. Klassiker sind jetzt schon das Süßwasserfisch-Sashimi, Krebse von der Holzkohle oder der gegrillte Catch of the Day, der hier (im Vergleich zu vielen anderen Catch of the Days) wörtlich zu verstehen ist.
Solche flexiblen Modelle fühlen sich als Gast hochindividuell an und geben der Küche einen willkommenen Handlungsspielraum. Das ist das Geniale am Konzept. Der See fördert immer wieder kleine Überraschungen zutage. Planen kann man damit nicht. „Wenn hier morgens zum Beispiel mal eine Aalrutte ankommt, dann kann ich die spontan für einen Gast einschieben, der das besonders schätzt“, erklärt Nagl, während er in der Zerlegeküche des Bootshaus’ vor einer Gruppe Berufsschüler einen kapitalen Hecht zerlegt. Die Mäuler der Nachwuchsköche stehen weiter offen als das des Raubfischs, und Lukas Nagl geht voll auf in seiner Rolle als Fischmeister der Nation. Er hat sein Fisch-System aufgebaut, perfektioniert und auf alle Teile des Unternehmens ausgerollt. Am Traunsee ist ein Dreiklang entstanden, der selten gelingt. Lukas Nagl hat eine persönliche Spezialisierung zum USP eines kulinarischen Ortes gemacht. Er legt das Terroir des Traunsees auf meisterhafte Art und Weise frei. Aber es ist noch viel mehr.

Aus dem See den Wert geschöpft
Der Koch hat in seinen 13 Jahren im Betrieb einen Kreislauf geschaffen, der für das Unternehmen einen erheblichen wirtschaftlichen Wert stiftet. Die restlose Verwertung des Seefischs ist die eine Seite dieser Wertschöpfung. Die andere Seite ist der mediale Wert, der aus dieser Geschichte erwachsen ist. Nagl, der Fischkoch, liefert am Traunsee derart viel Potenzial für gute Geschichten, dass man als Journalist gar nicht weiß, wo man anfangen soll.
Da ist zum Beispiel die Geschichte der Flusskrebse. Die sind in der Béletage, dem neuen Bistro, permanent auf der Karte. Es handelt sich dabei um den amerikanischen Signalkrebs, der im Abfluss des Traunsees zu einer Plage geworden ist. „Es gibt Stellen im Fluss, da sieht man vor Krebsen den Boden nicht mehr“, erzählt Benni Mayr. „Millionenfach kommen die hier vor.“ Selbst wenn die Zahl wohl eher als symbolhafte Schätzung zu werten ist: Das Krebsvorkommen reicht aus, um die Gröller-Gastro täglich mit Krebsen zu versorgen. Und wieder ist das nicht ausbeutend, sondern ökologisch sinnvoll.

Die nächste Geschichte ist das, was mit den Fischresten passiert. Denn bis zur letzten Gräte kann auch ein Lukas Nagl nicht jeden Fisch veredeln. Meint man. Diese Lücke wurde jedoch mit LuVi Fermente zumindest zum Teil geschlossen – dem Fermente-Start-up, das Lukas Nagl mit Viktor Gruber und Christine Brameshuber gegründet hat. In einer Lagerhalle, etwa 30 Minuten vom Traunsee entfernt, braut das Team nicht nur Sojasaucen und fermentiert Hülsenfrüchte zu Misos – dort landen auch Fischreste aus der Gröller-Gastronomie. Mit Koji-Pilz geimpft und mit Salzlake bedeckt, reifen sie zu einer Traunsee-Fischsauce nach Vorbild der vietnamesischen Nuoc Mam. Nur eben aus Süßwasserfisch. Sie schmeckt fischig, wuchtig-würzig, mit Karamellnoten und der vollen Breitseite Fisch-Umami. Sie ist so etwas wie das aromatische Rückgrat vieler Gerichte, die Lukas Nagl mit Blick auf den See serviert. So schließt sich der Kreis vollends.
Der Begriff „Terroir“, also das Erlebbarmachen der geografischen und klimatischen Gegebenheiten eines Ortes, wird meist mit dem Boden in Verbindung gebracht. Hier im Kosmos der Gröllers und Nagls besteht Terroir aus Wasser – und wird in ultimativer Konsequenz gelebt.






Terroir & Design: Die Liebe zur Konsequenz
Da ist aber auch die Geschichte der Wasserpumpe, die Wolfgang Gröller, Eigentümer und Geschäftsführer, installieren ließ, um Seewasser in das zweite Hotel der Gruppe, die Post Traunkirchen, zu pumpen. Mittels Wärmetauscher wird mit dem Seewasser aus der Tiefe der gesamte Hotelkomplex beheizt. „Hackschnitzel hätten hier nicht funktioniert – es blieb keine andere Lösung als die direkte Verbindung zum See“, sagt Gröller. Die Verzahnung mit dem Hausgewässer geht damit weit über das Kulinarische hinaus. See sehen. See essen. Seewärme spüren. Gröller hat gerade über 20 Millionen investiert, um seine zwei Hotels am See für die Zukunft fit zu machen und hat dabei – gefühlt – keinen Zentimeter dem Zufall überlassen. Denn auch die Designsprache und Detailliebe in der renovierten Post ist unmissverständlich: Wenn wir’s machen, machen wir’s richtig. Entwurfsverlauf anzeigen