Wer die Toskana liebt wie ich, liebt sie für ihren rustikalen Charme. Für grandiose Ausblicke auf surreal sanfte Hügelformationen. Für Wein und gutes Essen, für weitläufige Weiden mit Rindern und Schafen und für lokale Erzeuger. Innerhalb eines Tages kann man all die Facetten des toskanischen Lebensstils „erfahren“ – im wahrsten Sinne des Wortes. Von Weingut zu Osteria zu Punto Panoramico zu Bergdorf sind meist nur kleine Fahrstrecken von 20 Minuten nötig. Und selbst die sind gespickt mit idyllischen Szenen entlang der nicht immer ganz tadellosen Straßen. Aber auch das gehört irgendwie zum Toskana-Gefühl. Wer mit sauberem Auto nach Hause kommt, hat etwas falsch gemacht. Wer all die Vorzüge der Toskana an einem Ort erleben möchte, fährt zu Podere il Casale nach Pienza (über obligatorisch staubige Feldwege).
Ein Ort der Superlative
Durch Zufall (Instagram) wurden wir auf diese Genuss-Instititution aufmerksam. Institution, weil mir kein besseres Wort dafür einfällt. Bauernhof, Gourmet-Restaurant, Traum-Garten, Käserei, Weingut, Erholungsort, Campingplatz, Aussichtspunkt. All diese Attribute treffen auf Podere il Casale zu und doch wird keines alleine der ganzen Dimension des Ortes gerecht. Podere il Casale ist ein Ort, bei dem ich unweigerlich ins Schwärmen komme, weil sich hier ein Superlativ an den anderen reiht. Es beginnt beim atemberaubenden Ausblick und endet bei der Melonen-Gazpacho mit Ziegen-Feta aus der Hofkäserei.
Die Geschichte von Podere il Casale beginnt 1991. Der junge Schweizer Ulisse kommt als Aussteiger nach Pienza. Job gekündigt, die Schweiz verlassen, auf der Suche nach einem Leben im Einklang mit und mitten in der Natur. Bei Pienza, in der Nähe von Montepulciano findet er ein Stück Land, das ihm als Nährboden für seine Vision geeignet scheint. Einige bürokratische Strapazen später gründet er auf einem Hügel das Podere il Casale, zusammen mit Sandra, die auch aus der Schweiz in die Toskana zieht. Bis heute sind die beiden Herz und Antrieb des Betriebs, der sich innerhalb von 15 Jahren in einer behutsamen Evolution von einem Aussteiger-Projekt zum Gourmet-Pilgerort mit eigener Feinkost-Linie gemausert hat.
Der ökologische Kreislauf des Podere il Casale
Bereits die Anfahrt zum Podere il Casale ist ein Erlebnis. Die letzten vier Kilometer gleichen einer Aneinanderreihung von Toskana-Postkartenmotiven, allein dafür sollte man ein paar Minuten Extrazeit für Fotostopps einplanen. Angekommen am Podere erkennen wir dann allerdings, dass wir uns die Knipserei auch hätten sparen können, denn der phänomenalste Ausblick von allen liegt vor uns, von der Terrase des Restaurants hinab. Ein Blick, der das Wort Panorama einfach mal neu definiert. Toskana pur im 180 Grad-Winkel. Der erste Superlativ des Tages: Die schönste Restaurant-Terrasse der Toskana, die ich bislang gesehen habe. Ines, die gerade von München nach Pienza gezogen ist, um sich der Casale-Crew anzuschließen, holt uns ab und zeigt uns den ökologischen Kreislauf des Betriebs.
Wir steigen die paar Meter hinauf zum Ziegenstall, es ist Melk-Zeit. Melken ist hier noch Handarbeit, das passt gut in die Tier-Idylle, auf die wir treffen. Ziegen, Schafe und Schweine genießen hier ein extrem glückliches Leben, ganz nebenbei mit traumhaftem Toskana-Blick. Ein Pfau stolziert zwischen den Gattern hindurch. Hütehund Ronny bleibt treu bei seinen Schafen im Gehege, ein eingespieltes Team. Hier beginnt der Kreislauf für eines der Signature-Produkte des Podere il Casale: Käse aus der hauseigenen Käserei. Die frisch gemolkene Milch trägt Gründer Ulisse in einem blechernen Rucksack hinab in die Produktionsräumen. Dort verarbeitet Matteo aus Argentinien die Ziegenrohmilch in innovative Käsespezialitäten, die mittlerweile überregional begehrt sind. „Ihr müsst den Ziegenfeta in der Melonen-Gazpacho probieren“, sagt Ines und verrät, dass sie mit Matteo bereits an einer Ziegenburrata tüftelt. Der Reifekeller erwartet uns mit einem betörenden Duft der einjährig gereiften Laibe, in einem steinernen Gefäß in der Ecke reifen Käse mit Walnussblättern – ein irrsinniges Aroma als wir den Kopf hineinstrecken.
Campen am Gourmet-Restaurant
Die Hof-Tour führt uns weiter, entlang am Campingplatz. Hier stehen die Zelte auf einer kleinen Wiese genau zwischen Restaurant und Ziegenstall. Tiergeräusche und Gerüche muss man schon mögen, wenn man hier seinen Sommerurlaub verbringt, doch genau das schätzen die Gäste des Podere. Denn: kürzer war der Heimweg aus dem Gourmet-Restaurant wohl nie. Beim Essen lausche ich später einem jungen Deutschen, der viermal im Jahr hierher kommt, um mitzuhelfen, mitzuessen und die Stimmung aufzusaugen. „Das ist irgendwie mein Place to be“, sagt er. Wir verstehen genau, was er meint.
Hinter dem Meerschweinchengehege (nur zum Streicheln, nicht zum Essen!) fällt der hauseigene Gemüsegarten steil ab. Unter Walnussbäumen bauen Ulisse, Sandra und ihr Team all das selbst an, was sie für den Restaurantbetrieb benötigen. „Farm to Table“ ist der Begriff, der ihr Konzept am besten umschreibt. Er steht für den direkten Weg der Produkte von Hof und Garten in die Küche. Ein Großteil der verarbeiteten Produkte legt einen Weg zurück, der die 100 Meter nicht überschreitet. Von allen Seiten strömen Köstlichkeiten hinein ins Genuss-Epizentrum des Betriebs – das Restaurant Podere il Casale. „Das hat sich ganz langsam zu einer Top-Adresse entwickelt“, erzählt Ines, die glückseelig von ihrem neuen Arbeitgeber plaudert. Auch bei ihr scheint das Place-to-be-Gefühl bereits durch. Zum anschließenden Restaurantbesuch muss sie uns nicht mehr überreden. Jetzt wollen wir schmecken, was wir schon gesehen haben.
Essen im Podere il Casale
Das Restaurant ist die konsequente Vollendung dessen, was auf dem Gelände drumherum gelebt wird. Stilvolles, warmes Interieur, ein charmanter Service, hauseigenes Brot. Wir bestellen – wie empfohlen – die Melonen-Gazpacho, einen dekonstruierten Panzanella mit Kohle-Brot, Spanferkel in Red Ale und geschmortem Kohl, Ricotta-Parfait und Schafsmilch-Pana Cotta. Am nachhaltigsten beeindruckt mich tatsächlich die Gazpacho im Zusammenspiel mit dem extrem intensiven Ziegen-Feta, gequollenem Weizen und einem Blatt Minze. Als wir das Restaurant verlassen, ist das Panorama der Dunkelheit gewichen, der Weg zurück über die Holperpiste ist ohne Tageslicht nicht mehr ganz so idyllisch, aber das macht nichts. Unsere Köpfe sind gefüllt von intensiven Eindrücken und der Erinnerung an einen unerwartet beeindruckenden Tag. Hier zu leben und zu arbeiten, wie Ines – für mich eine absolut verlockende Vorstellung. Vielleicht in meinem nächsten Leben.
Sehr schön und eindrücklich erzählt! Da muss ich auf jeden Fall nochmal hin!