Vilnius in 72 Stunden: Kulinarische Tipps für Litauens Hauptstadt

Ganz Vilnius vibriert in pink, als wir an diesem Samstag im Mai durch die Straßen der litauischen Hauptstadt flanieren. Es ist Pink Soup Day – ein großes Happening in Vilnius. Im Missionary Gardens Park, direkt an der Altstadt, ist am Hang eine pinkfarbene Rutsche aufgebaut. Menschen werfen sich bäuchlings und auf einem Seifengleitfilm den Hügel hinab. Pinke Hüte, pinke Gürtel, pinke Ballons, pinke Suppen. Schrill und enthusiastisch ist dieses Fest schon allein der Farbe wegen. Doch auch das Selbstverständnis und der Enthusiasmus, mit dem die Menschen an diesem Tag eine uralte Suppe feiern, sagt viel über den Gemütszustand der Stadt. Sie wirkt an diesen Tagen wie ein Teenager mit etwas zu viel Endorphin in der Blutbahn, der gerade seine Identität entdeckt. Und ganz abwegig ist der Vergleich nicht.

Langer Weg in die Freiheit

Die politische und gesellschaftliche Identität Litauens gleicht einer Achterbahn. Unsere Stadtführerin Justina fasst uns das auf unserer kleinen Innenstadtrunde sehr plastisch zusammen. Litauen war im Mittelalter ein Großfürstentum, wurde christianisiert und verband sich später in einer Union mit Polen. Im 18. Jahrhundert wurde das Land im Zuge der Teilungen Polens aufgelöst und geriet unter die Kontrolle des Russischen Reiches. Nach dem Ersten Weltkrieg erlangte Litauen 1918 seine Unabhängigkeit, durchlief zunächst eine demokratische Phase und später eine autoritäre. Der Zweite Weltkrieg brachte eine Abfolge von Besatzungen: erst durch die Sowjetunion, dann durch Nazi-Deutschland und schließlich erneut durch die Sowjetunion. Ab Ende der 1980er-Jahre formierte sich die Unabhängigkeitsbewegung, und 1990 erklärte Litauen als erste Sowjetrepublik seine Loslösung von Moskau – ein Jahr später wurde es international anerkannt.

Vilnius

Seit 35 Jahren ist Litauen ein freies Land – zum zweiten Mal. „Es könnte nicht besser sein gerade. Die Arbeitslosigkeit am Minimum, die Löhne steigen, der Wohlstand wächst“, sagt sie. Und doch spürt man: Der Optimismus ist getrübt. „Das Einzige, das uns Sorge macht, ist Putin.“ Angst mischt sich in eine Sturm-und-Drang-Phase, denn Litauen ist gerade dabei, sich in seiner bisher besten Form zu finden. Kulinarik ist gerade jetzt eine dankbare Ausdrucksform. Unpolitisch, nahbar, für jeden zugänglich. Und auf die pinke Suppe Šaltibarščiai können sich hier alle einigen. Sie kam als Joghurtsuppe von den Turkvölkern nach Litauen, wurde hier mit roter Bete, Kefir, Dill, Gurken und Zwiebeln in das Terroir des Landes eingebunden und gilt mittlerweile als Nationalgericht. Dass sie farblich auffällt, gibt ihr etwas Ikonisches. Und ein eigener Feiertag manifestiert einen Kult, der dem Land spürbar guttut.

Vilnius: August

Hüter der Tradition

Litauen war lange ein bäuerlich geprägtes Land und ist es heute abseits der Metropolen Kaunas und Vilnius noch immer. Die Klassiker der Landesküche fußen auf Getreide, Milchprodukten und Kartoffeln. Fleisch ist Luxus, Fisch zu weit weg. Und so hat sich eine rustikale Gemüseküche entwickelt, meist begleitet von einer Säure, die entweder laktisch aus Kefir und Sauerrahm kommt oder von Pickles, die hier schon jeder mochte, bevor der globale Fermentationswahn sich Bahn brach. Schmecken kann man das in der Hauptstadt Vilnius fast überall. In den Touristenlokalen der Stadt sowieso, aber auch in neuen Genussorten, die sich der litauischen Tradition zuwenden und sie auf ganz unterschiedliche Art und Weise in die Zukunft führen.

Im Amandus zum Beispiel sitzt man elegant in gedämpftem Licht und fühlt sich kosmopolitisch eingehüllt, während die Teller klassisch litauische Geschmacksbilder transportieren. Klassisch ist dabei allerdings nur das, was im Mund passiert. Vehikel für Landestraditionen sind Reagenzgläser (mit Gemüsebrühe), tiefe Teller mit angegossenen Brühen und Saucen und Fleisch, das mit aromatisiertem Geist besprüht und entzündet wird, um die Ätherik der Gewürze zu entfachen. Der Budenzauber reicht von Trockeneis über Knisterbrause bis hin zu Feuer-Einlagen. Gesehen hat man das in Deutschland alles schon mal vor zehn Jahren. In Litauen erfindet sich die Restaurantlandschaft gerade zum ersten Mal auf gehobenem Niveau und durchläuft eine Art gastronomische Pubertät – das wird an einigen Stellen der Reise deutlich. Man kann darüber die Nase rümpfen oder sich mit den Köchen freuen, die spürbar stolz und in Aufbruchsstimmung sind.

Vilnius: August

Eine Stadt in Aufbruchstimmung

Im Augustin essen wir ausgefeilte Tapas in einer Fusion aus weltweiten Trends und litauischen Signature-Zutaten. Hier eine Heidelbeersauce, da eingelegte Preiselbeeren, zu den Flusskrebsen gibt’s Schmand und Dill, und es wirkt, als sei das alles füreinander bestimmt. Das Baleboste strotzt nicht unbedingt vor Herzlichkeit, füllt unseren Tisch dafür aber mit Deftigkeit in Eintöpfen, Cremes, Fleischspeisen und Suppen, sodass wir uns einen Mittag lang wie am Familientisch fühlen.

Vilnius: Desertuklubas

Und im Desertų Klubas laden wir früh am Tag die Butter- und Zuckerspeicher auf – mit Patisserie auf einem unheimlich hohen Niveau und dem vielleicht besten Mandelcroissant, das ich je gegessen habe. Der „Boba“, eine Art Panettone auf Litauisch, ist dermaßen dicht und saftig, dass ein Stück davon im Koffer landet und auch Tage später noch Freude macht. Nicht ganz zentral gelegen aber wunderbar für einen kleinen Wochenend-Ausflug an den Stadtrand.

Die ersten Michelin-Sterne kommen

2024 wurden in Litauen zum ersten Mal Michelin-Sterne vergeben. Das Demoloftas, im schicken Neustadt-Viertel Vilnius’ Naujamiestis, hat einen bekommen und ihn gerade erst bestätigt. Wir treffen dort Alois Herrmann aus Deutschland, der in Litauen als Weinimporteur und Sommelier arbeitet und uns den Eindruck vom Vorabend im Amandus bestätigt. „Es ist hier alles gerade in Entwicklung, und ich helfe mit, hier ein paar der Erfahrungen aus Deutschland einzubringen.“ Turbos wie diese helfen dabei, den Sprung aufs internationale Tableau zu beschleunigen. Im Demoloftas zeigt das Wirkung. „Die Küche hat sich innerhalb eines Jahres enorm weiterentwickelt“, sagt Denise Wachter, die uns als Halb-Litauerin durch die Reise führt und bereits letztes Jahr dort gegessen hat. An diesem Abend nimmt uns Tadas Eidukevičius mit auf eine Reise durch seinen Kopf. Genuss ist dort ein großes Thema, aber fast noch wichtiger scheint ihm der Mensch als Wesen in einer aus den Fugen geratenen Welt. Seine gastronomische Vision hangelt sich deshalb entlang existenzieller und philosophischer Gedanken, die er in ein zehngängiges Menü übersetzt hat. Konzeptküche nennt man das – und es klingt verkopft. Das ist es auch, holt mich aber ab mit einer kulinarischen Leistung, die mich nach starkem Storytelling am Tisch nicht ins Leere fallen lässt. Einzelne Gänge ragen heraus und werden am Ende der Reise zu den großen geschmacklichen Highlights zählen. Einzelne „Taste follows story“-Momente schmälern das Gesamterlebnis nicht entscheidend, und so bleibt am Ende das Gefühl, ein Konzept erlebt zu haben, das mit einem eigenen Stil energisch an der Tür zur internationalen Klasse klopft.

Vilnius: Demoloftas

Zwischen Portugal und Indien

Das kulinarisch denkwürdigste Essen der Reise erleben wir am letzten Abend im Gaspar’s. Küchenchef und Namensgeber Gaspar Fernandes verschmilzt dort seine familiären Wurzeln aus Indien und Portugal in Gerichten, die so viel Einzigartigkeit hervorbringen, dass Litauen für kurze Momente wie der Nabel der kulinarischen Welt erscheint. Eine Art Risotto aus Thunfischbauch, Sardine, Sardinenleber und Makrele ist getoppt von einer Vin-Jaune-Sauce und soll den Thunfisch in seinem natürlichen Fressverhalten verkörpern. Das Umamilevel am Anschlag, cremig, rund, schmelzig und in einer selten so gut dosiert erlebten Fischigkeit. Bemerkenswert gut gegart ist der Kaisergranat mit ätherisch schaumiger Sauce mit Kaffirlimette. Und endgültige Glückseligkeit stellt sich ein, als wir buttrigstes Paratha-Brot durch eine Pfanne mit einer Bisque aus Krustentierköpfen ziehen dürfen – als kleinen Zwischengruß aus der Küche. Das gesamte Menü ist so auf Geschmack fokussiert, dass es sich anfühlt wie der Gegenpol zur ESG-Sterneküche vom Abend vorher. Warum hier kein Stern landen durfte, ist ein Rätsel.

Es sind diese Kontraste, die belegen: Vilnius hat sich als kulinarische Destination emanzipiert. Von rustikaler Landesküche à la Pink Soup bis gehobener Terroirküche. Von intellektuell angehauchtem Fine Dining bis hoch emotionaler Wohlfühlküche – überall serviert mit einer persönlichen Note.

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Rabattdigga
24 Tage zuvor

Welches dieser Restaurants in Vilnius würden Sie einem Erstbesucher empfehlen, der einen echten Geschmack der lokalen Kultur erleben möchte?