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Beim Wohlfühlen sind die ersten Sekunden mitentscheidend. Ich klingle an der Pforte zum kleinen Ladengeschäft der Gegenbauer-Essigmanufaktur in der Wiener Waldgasse. An der Gegensprechanlage meldet sich Daniela Gegenbauer, die Hausherrin. „Ich mach auf, die Schlüssel liegen drinnen,“ erklärt sie. „Frühstück um neun?“ Das Geschäft hat schon geschlossen, eine Rezeption für die Wiener Gästezimmer, die direkt darüber liegen, gibt es nicht. Dann öffnet sich die Tür, vollautomatisch. Ich stehe im holzverkleideten Verkaufsraum, erahne durch die spärliche Beleuchtung ein Meer von Essigfläschchen.Es riecht nach Holz und Kaffee und in mir steigt Freude auf. Das könnte ein erlebnisreiches Wochenende werden – ich mache mich auf Entdeckungsreise.
Ein kleiner Zettel auf der Küchentheke verrät mir, was ich wissen muss. Kaffee, Bier, Cidre, Lebensmittel. Alles darf ich mir hier nehmen. Alles aus eigener Herstellung – abgerechnet wird später. Pool und Sauna der Familie stehen zur freien Verfügung. Der Gast ist hier eine Vertrauensperson, von der ersten Sekunde an – ein wunderbares Gefühl. „Die Leute, die wir mit unserem Angebot anziehen, werden niemals ein Risiko sein,“ sagt Erwin Gegenbauer später. Was er damin meint, verstehe ich, als ich mein Zimmer betrete. Die Wiener Gästezimmer sind weit weg von all dem, was ein klassisches Hotelzimmer ausmacht. Kein Fernseher, keine Vorhänge, keine Kunst. Geborgenheit und Gemütlichkeit kommen hier nicht von der ersten Sekunde an auf. Die Zimmer sind ein kleines Abenteuer, an Schlaf ist deshalb nicht zu denken.
„Unsere Wiener Gästezimmer sind die pure Reduktion auf das Wesentliche.“ So umschreibt Erwin Gegenbauer seinen Wohn-Ansatz. Vier Architekten habe er dafür „verschlissen,“ bis er endlich einen Vorschlag auf dem Tisch hatte, der seinem Streben nach Purismus standhalten konnte. Jedes der Elemente verbirgt eine Geschichte, ob nun in Bezug auf sein Design, sein Material oder die Funktionalität. Das Bett zum Beispiel: Gefertigt aus Lärchenholz – aus jenem Holz also, aus dem auch das gigantische Holzfass besteht, das Gegenbauer mit ungeheurem Aufwand über den angrenzenden Lidl-Parkplatz in seinen Hof schweben ließ. Keine Kästen, keine Schubladen – diese Vorgabe mussten die Architekten erfüllen. Am Ende erschufen sie eine Staffel-Bretter-Konstruktion, die Bett, Schreibtisch, Schubfächer und Wickeltisch in einem Möbelstück vereint.
Die Toilette: Ausgestattet mit allen nur erdenklichen Zusatz-Features, bis hin zur beheizten Klobrille, an die man sich erst einmal gewöhnen muss, weil eine warme Klobrille per se erstmal ein ambivalentes Gefühl hinterlässt. Die Dusche: Mittig im Raum platziert, von der Decke hängend. Umgeben von einem orangefarbenen Plastik-Vorhang, der sich bei Wasserkontakt auf den Boden klebt und die Duschkabine nach außen hin abdichtet. Das Wasser wird nicht mit Druck auf den Duschenden gepresst, sondern quillt seitlich aus dem Duschkopf heraus und fällt gewissermaßen hinab. Die Wasserleitungen liegen frei an der Decke, genau wie die Elektroleitungen. Gegenbauers Philosophie: „Absolute Transparenz, ich will sehen, wie etwas funktioniert.“
Die Waschbecken sind aus Wiener Emaille gefertigt – riesige Schüsseln, allerdings ohne Abflussloch. Sind sie vollgelaufen, gießt man sie aus, in die Fassung darunter, wo sich dann auch ein Abfluss findet. „Wir wollen das Bewusstsein für den Rohstoff Wasser wecken. Hier musst du das Wasser abdrehen, sonst läuft dir das Lavoir über “ – sagt Erwin Gegenbauer. Die Lampen besitzen keinen klassischen Schalter. Von der Decke hängen dicke Ketten herab, die bei kräftigem Ziehen für Beleuchtung sorgen. Eine Master-Kette am Eingang sorgt für volles Licht im Zimmer, mit einem Zug. Gegenbauer: „Das ist für mich Luxus. ich möchte nicht beim Verlassen des Zimmers Schalter suchen.“
Die Gästezimmer sind eingebettet in ein Ökosystem, dessen Komplexität und Holistik sich erst nach einem intensiven Gespräch mit dem Gastgeber vollends erschließen. Mit der Essigbrauerei als Basis, strebt der Visionär nach völliger Autonomie. Jede neue Verzahnung der Produktionsprozesse macht Erwin Gegenbauer ein Stück glücklicher. „Kreisläufe sind mir wichtig,“ sagt er immer wieder. Sein Paradebeispiel ist die Himbeere: Aus den Früchten gewinnt er Saft, daraus Essig. Aus den Kernen, die übrig bleiben, presst er Himbeerkernöl. Den fettreichen Trester der Kerne verfüttert er an die Hühner, die dadurch intramuskuläres Fett ansetzen. Erwin Gegenbauer kommt schnell ins Schwärmen: „Wenn meine Gäste dann zum Frühstück ihr Himbeerei essen, dann ist der Kreislauf für mich perfekt.“
Zur Essigbrauerei im Hause Gegenbauer gesellten sich ich Laufe der vergangenen Jahre eine Ölmühle, eine Bier-Brauerei, eine kleine Gärtnerei und ein Hühnerstall. Das nächste Projekt ist die Stromversorgung. Das Ziel: Aus dem Trester der Produktion Energie für das gesamte Unternehmen zu gewinnen. Tradition und Fortschrittdenken gehen Hand in Hand – das wird spätestens dann klar, wenn man die Produktionsräume betritt. Alte Gemäuer umrahmen dort modernste Labor-Ausstattung und glänzende Kessel. Eine Melange, die schon beim Anblick Gutes verspricht. Kleine Essigpröbchen laden überall zur Spontan-Verkostung ein.
Gegenbauer ist der Prototyp eines Slow-Menschen. Alles was er tut, ist geprägt vom Streben nach behutsamer Optimierung. Das Wort Perfektion mag er nicht. Entschleunigung findet hier auf allen Ebenen statt. Slow Food, Slow Living, Slow Brewing. „Wenn ich höre, dass etwas zu langsam und deshalb unökonomisch ist, dann werde ich hellhörig. Denn dann weiß ich, dass es Potential zu etwas Hochwertigem hat“ – ein bemerkenswerter Satz, der exakt jenes Gefühl umschreibt, das einen umschmeichelt, wenn man sich einige Tage mit den Gegenbauers umgibt. Obwohl die Essige mittlerweile Weltruhm erlangt haben, obwohl sternedekorierte Köche auf Gegenbauer-Essig schwören, entsteht zu keiner Zeit das Gefühl, dass hier mit ökonomischem Hochdruck gearbeitet wird. Überall lagern Produkte, die zwischen 5 und 20 Jahren auf dem Buckel haben. Einen neuen Essig zu planen, bedeutet, das Endprodukt erst Jahre später in den Händen zu halten. Entsprechend viel Zeit kann sich Erwin Gegenbauer für die Erforschung seines Herzproduktes nehmen. Im Keller lagern seine Essigmütter, täglich kontrolliert er eigenhändig seine Bakterienstämme. Und wenn seine Gäste morgens zum Frühstück in das Ladengeschäft hinuntersteigen, steht er bereits hinter der Theke und improvisiert in Seelenruhe ein kaiserliches Frühstück – stets veredelt mit einigen Tropfen seines Essig und Öls.
Wiener Gästezimmer
Waldgasse 3, 1100 Wien
Telefon: +43 1 6041088
Disclaimer: Der Besuch der Wiener Gästezimmer erfolgte auf Einladung der Familie Gegenbauer. Meine subjektive Meinung und Berichterstattung bleibt davon unberührt.
WIEN -ich komme wieder 2017
Lieber David! Vielen Dank für diese tolle Entdeckung. Reise, Genuss und Erlebnis – ein Traum. Ich bin dieses Jahr im August in Wien und auch wir haben eine tolle Unterkunft, die ich nur weiterempfehlen kann:
http://www.magdas-hotel.at/home/
(magdas HOTEL ist ein Social Business, das auf Kooperation, bestehenden Ressourcen und einer gesellschaftlichen Vision aufbaut: Flüchtlinge, Freiwillige und Profis …)
Über die kulinarischen Eindrücke dort, kann ich dann im September breichten 😉
Hallo Torsten! Warst du auch bei den Gegenbauers? 🙂
Wieviel kostet eine Übernachtung?